«Wir haben hier nicht einen 90 Grad Winkel»
Der Anblick der Hochgebirgslandschaft ist atemberaubend: Auf 1’900 Meter über Meer windet sich die Strasse in Serpentinen hinauf zum Grimselpass, der das Berner Oberland mit dem Oberwallis verbindet. Die Passhöhe liegt auf 2'163 Meter über Meer und an der europäischen Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Nordsee.
«Wenn das Wetter schön ist, ist es hier perfekt», lacht Bauführer Daniel Seliner. Er verbringt bereits das dritte Jahr auf dieser Jahrhundertbaustelle und hat schon jede Art von Witterung erlebt. An diesem heissen Spätsommertag glitzert das Wasser des Sees, Felsen und Bauwerk präsentieren sich im hellsten Licht. Aber es geht auch anders. «2021, als wir angefangen haben zu bauen, hat es sehr viel geregnet. Das war schwierig: Wenn es wochenlang nass ist, geht auch die Motivation flöten.»
Bauen im «Pilgerschritt»
Rund 100 Menschen arbeiten im Team der ARGE Grimsel von Anfang April bis Ende Oktober in mehreren Schichten an sieben Tagen pro Woche. Die Baustelle im Hochgebirge versinkt im Winter unter einer dicken Schneedecke und ist damit nur rund sechs Monate im Jahr zugänglich – die Zeit will gut genutzt sein. Ab 6 Uhr morgens wird geschalt, ab 16 Uhr betoniert. Das Ziel ist, jeden Tag einen drei Meter hohen Block zu betonieren und die Staumauer so im «Pilgerschritt»-Verfahren in die Höhe zu ziehen.
«Wir bauen zunächst die sogenannten Vorläufer-Blöcke neun bis zwölf Meter vor und ziehen dann die Nachläuferblöcke nach – das sieht aus, als würden Zinnen in die Höhe wachsen. Diese Verfahrensweise spart Zeit: Wir schalen die Vorläuferblöcken einmal allseitig, die Nachläufer bekommen nur wasser- und luftseitig Paramentschalungen. So kann auf verschiedenen Ebenen gearbeitet werden und wir kommen einander nicht in die Quere», erklärt Daniel das Verfahren.
Ist einer der Blöcke fertig betoniert und der Beton hart, löst das Team die Schalung und positioniert sie mit dem Kran drei Meter weiter nach oben. Beim Einpassen ist Präzision gefragt. «Wir haben hier an der doppelt gekrümmten Staumauer nicht einen 90-Grad-Winkel, alles ist gerundet. Darum wird jeder Block mit dem Theodoliten eingemessen», so Daniel Seliner.
Lass dich von unserem Team auf der Baustelle herumführen!
Bau der Ersatzstaumauer Spitallamm
Die Kraftwerke Oberhasli AG ersetzen von 2019 bis 2025 die bestehende Staumauer mit einer neuen. Die alte Mauer ist sanierungsbedürftig, sie bleibt jedoch erhalten und wird später geflutet. Mit dem Ersatzneubau der Spitallamm Mauer stellt die KWO sicher, dass das Wasser aus dem Grimselsee langfristig ohne Einschränkung für die Stromproduktion genutzt werden kann.
Betonherstellung am Fuss der Mauer
Der verwendete Beton mit tiefem Zementgehalt und Flugasche wird in der Mischanlage direkt am Fuss der Staumauer hergestellt. Seit 2022 überwacht die Bauführerin Julia Geist die Betonproduktion ebenso wie die Arbeit im eigenen Kieswerk auf 1’650 Meter über Meer, rund drei Kilometer weiter unten an der Strasse.
«Im Gegensatz zu sonst üblichem Standardbeton gibt hier der Bauherr die Zusammensetzung des Betons genau vor», erklärt Julia. «Das gibt es eigentlich nur bei Staumauern. Wir verwenden Gesteinskörnungen bis zu 125 mm Durchmesser. Das ist ein sehr aussergewöhnlicher Beton!»
Das Material für die Betonherstellung stammt aus dem nächsten Umfeld, wie Julia betont: «Wir gewinnen das Gestein selbst. Zuerst haben wir dafür den Felsabtrag aus der Staumauer wiederverwertet. Inzwischen nutzen wir altrechtliche Deponien aus den 80er Jahren, die man für Stollenausbrüche für das Grimsel-System gemacht hat.»
Kurze Wege sind gut für die Umwelt
Bis das Gestein für die Betonherstellung genutzt werden kann, sind einige Arbeitsschritte notwendig, die qualitativ und zeitlich abgestimmt sein müssen. «Wir entfernen zunächst unter anderem Plastik und Holz aus der Deponie. Dann wird das vorgebrochene Rohmaterial im Kieswerk weiter gebrochen, gewaschen und gesiebt und so für die verschiedenen Gesteinskomponenten für den Beton aufbereitet. Anschliessend fahren wir es rund 3 km mit Lastwagen hinauf zum Betonwerk und füllen es dort in die entsprechenden Silos.»
Kurze Wege sparen Zeit und sind gut für die Umwelt. Und wo es nicht anders geht, setzt das Team auf möglichst umweltverträglichen Transport, wie Julia erklärt: «Zement und Flugasche sind das Einzige, was wir vom Tal heraufschaffen müssen. Dieses Material wird teilweise mit Elektrolastwagen heraufgeliefert.»
Der Beton selbst wird direkt am Fuss der Staumauer gemischt – streng nach Vorgaben, um die hohen Qualitätsanforderungen zu erfüllen. «Wir betreiben ein eigenes Baustellen-Labor, da wird das Material laufend geprüft und der Prozess dokumentiert», betont Julia.
40 km Wasserleitungen im Beton
Um sicherzustellen, dass die neue Staumauer keine Risse entwickelt, sind aber nicht nur die richtige Betonmischung und der sachgerechte Einbau relevant; der Beton muss auch gleichmässig aushärten. Zu diesem Zweck wird er bereits während des Einbaus gekühlt – mit Wasser, das durch insgesamt ca. 40 km an Wasserleitungen durch die neue Staumauer geführt werden.
Das kalte Wasser stammt aus dem Stausee und wird nach Gebrauch wieder in das Grimsel-System zurückgeführt, wie Daniel Seliner erklärt: «Das Wasser im See enthält sehr viele Sedimente. Nach unserem Gebrauch reinigen wir es – und speisen es dann sauberer zurück, als wir es entnommen haben. Die Wasserqualität überprüfen und dokumentieren wir täglich. Es ist uns ein Bedürfnis, gut auf die Umwelt aufzupassen.»
In 3-Meter-Schritten gegen die Zeit
Sind der vorgesehene Block geschalt, die Kühl- und Injektionsleitungen verlegt und Fugenbänder, Aussparungen sowie Schalungen der Kontrollgänge etc. eingebaut, geht es los: Der Beton wird mit einem grossen Stapler zum Betonkübel am Kran gefördert und hinauf auf die neu entstehende Mauer gehoben, wo ihn das Team schon mit dem Verteilbagger und dem Vibrobagger erwartet. Bis 3 Uhr morgens werden täglich rund 500 m3 Beton in einen vorbereiteten Block eingebaut. So wächst die Mauer Tag für Tag ein Stück weiter in die Höhe.
Gegen Ende der intensiven Bausaison blickt Daniel Seliner zufrieden auf das Werk des Tages: «Das ist dritte Betoniersaison hier auf der Baustelle, und es läuft wirklich hervorragend. Die Teams haben sich am Anfang der Saison schnell zusammengefunden, die Leute haben Freude, an so einem Jahrhundertprojekt mitzuwirken. Wir sind voll motiviert und liegen sogar vor dem Zeitplan. Damit bin ich zuversichtlich, dass wir die Staumauer im Herbst 2025 an den Bauherrn übergeben können.»