Wo Schiffe Aufzug fahren
Auf ihrem Weg zwischen Berlin und dem Seehafen Stettin in Polen bestand für grössere, moderne Güterschiffe hier ein Nadelöhr: Das alte Schiffshebewerk Niederfinow aus dem Jahr 1934 war zu klein für die zeitgemässe Flotte und sehr aufwändig in der Instandhaltung geworden. Die neue Anlage löst diese Probleme. Sie wurde im Hinblick auf die Zukunft so konzipiert, dass bis zu 110 Meter lange, doppelstöckig beladene Containerschiffe die Wasserscheide zwischen Havel und Oder passieren könnten.
Man kann sich die Anlage vorstellen wie einen riesigen Lift: Während einer rund dreiminütigen Fahrt werden die Schiffe in einem riesigen Trog gehoben bzw. gesenkt, um den 36 Meter hohen Geländesprung zu überwinden. Ein gesamter Schleusungsvorgang von der Einfahrt bis zur Ausfahrt dauert rund 30 Minuten. Gebaut wurde das neue Schiffshebewerk Niederfinow im Auftrag der Wasserstrassen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) unter der technischen Federführung von Implenia in einer ARGE mit den Partnern DSD Brückenbau, Johann Bunte sowie SIEMAG TECBERG.
« Es handelte sich um ein äusserst anspruchsvolles Projekt mit gigantischen Ausmassen.»
Henning Schrewe, Head Civil Deutschland
«Es handelte sich um ein äusserst anspruchsvolles Projekt mit gigantischen Ausmassen», erklärt Henning Schrewe, Head Civil Deutschland. Und es sei ein Projekt gewesen, bei dem Implenia seine Expertise in der Realisierung von komplexen Projekten habe einbringen und unter Beweis stellen können. «Wir sind alle sehr stolz darauf, dass wir dieses eindrückliche Bauwerk nun den Bauherren für den Betrieb übergeben konnten.»
Eigene Gewerke als Erfolgsfaktor
Die Bauzeit zwischen 2008 und 2022 war nicht nur lang, sondern auch intensiv – von Beginn weg. «Die ausgeschriebene Planung musste in vielen Bereichen überprüft werden. Dies hatte zur Folge, dass wir – baubegleitend – eine komplett neue Gesamtstatik und Verformungsberechnung aufgestellt haben», führt Projektleiter Carsten Genetzke aus. «Dass wir diese Leistung für den Leistungsanteil von Implenia in unserem eigenen technischen Büro erbringen und dadurch auch die enge Zusammenarbeit mit der Baustelle sicherstellen konnten, war ein Glücksfall.» Auch bei der Errichtung der Tragkonstruktion in Stahlbetonweise, bei der sehr strenge Toleranzgrenzen eingehalten werden mussten, sei die Einbindung der Implenia eigenen Kompetenzen ein zentraler Erfolgsfaktor gewesen. «Wir konnten nicht nur auf eine motivierte und topqualifizierte Mannschaft vor Ort zählen, sondern auch auf die Leistungen unseres Spezialtiefbaus, unseres Schalungsbaus und unseres Betonlabors – ein wahrlich integriertes Projekt also.» Über das gesamte Projekt hinweg sind Kompetenzen und Know-how aus dem Ingenieurbau, Spezialtiefbau und Hochbau von Implenia eingeflossen.
Es braucht Ingenieur- und Management-Know-How
So wie die Schiffe im Hebewerk nach unten und nach oben befördert werden, gab es auch während der Bauzeit Höhen und Tiefen. «Wir als Baufirma wollten unsere Bauaufgabe entsprechend dem geschlossenen Vertrag und den Vorgaben des Entwurfs fertigstellen und in der geplanten Bauzeit abliefern und mussten an die Wirtschaftlichkeit der Baustelle denken; unser Auftraggeber wollte höchste Qualität nach neusten Normen und musste sein geplantes Budget beachten. Und zwischen uns lag dieser Vertrag, den es auszulegen und mit Leben zu füllen galt», erklärt Henning Schrewe.
Essenziell für den Projekterfolg war der feste Wille aller beteiligten Parteien, trotz dieser Herausforderungen den Weg gemeinsam zu Ende zu gehen und notwendige Entscheidungen zwischen den beteiligten Experten zu treffen. Dies habe intensive Diskussionen und vom Auftraggeber und vom Auftragnehmer Kompromissbereitschaft erfordert. «Nach Fertigstellung in vom Auftraggeber anerkannt hoher Qualität konnten wir uns mit dem Auftraggeber auf eine marktgerechte Vergütung der zusätzlich erforderlichen Leistungen und Bauzeit verständigen. Auftraggeber und Auftragnehmer sind gleichermassen mit der Bauleistung und dem wirtschaftlichen Ergebnis des Projektes zufrieden.» Bei künftigen Projekten auf deutschen Wasserstrassen regelt eine Charta die wichtigsten Punkte der Zusammenarbeit auf Baustellen. Sie ist aufgrund eines Dialogs zwischen dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr, der WSV, der Fachabteilung Wasserbau des Verbandes der Bauindustrie und Bauunternehmen und Partnern bei diversen Projekten entstanden.
Carsten Genetzke betont: «Bei all der Normierung der Ingenieurwissenschaft brauchte es bei diesem Projekt insbesondere auch ein hohes Mass an Kreativität und Kommunikationsfähigkeit.» Ob technischer oder vertraglicher Art: Implenia ist an den verschiedensten Lösungsfindungen beteiligt gewesen, die in einem sehr grossen Team abgestimmt und umgesetzt werden mussten. Geholfen hat dabei, dass aufgrund der Kontinuität im Management der Wissenstransfer stets gewährleistet war, dass die Zusammenarbeit mit den ARGE-Partnern eng war und sich die Teamarbeit über die verschiedenen Hierarchieebenen unkompliziert gestalten liess.
«Bei all der Normierung der Ingenieurwissenschaft brauchte es bei diesem Projekt insbesondere auch ein hohes Mass an Kreativität und Kommunikationsfähigkeit.»
Carsten Genetzke, Projektleiter
Eine Meisterleistung in Maschinenbau und Bauingenieurswesen
Insgesamt wurden für das neue Schiffshebewerk Niederfinow rund 65’000 Kubikmeter Beton- und Stahlbeton, 8’900 Tonnen Bewehrungsstahl und 40’000 Kubikmeter Spundwandstahl verbaut. Entsprechend imposant sind die Dimensionen des Bauwerks mit einer Höhe von 55 Metern, 46 Meter Breite und 133 Meter Länge. «Bei der Realisation mussten wir zum Beispiel berücksichtigen, dass sich die vier einzeln stehenden Pylone während unterschiedlicher Belastungen verformen. Die Pylone wurden mit einer Vorverformung gebaut, sodass sie nach dem Anbringen der Lasten am Ende senkrecht stehen», erklärt Henning Schrewe. Aber auch aus technologischer Sicht ist das Schiffshebewerk eine Meisterleistung: Es ist mit moderner Technologie ausgestattet und wird komplett elektronisch gesteuert.
So funktioniert es
Das Prinzip des neuen Schiffshebewerks ist so simpel wie genial: Der Trog, in dem die Schiffe Aufzug fahren, ist über Stahlseile und Seilrollen mit Gegengewichten verbunden. Das Gesamtsystem ist im Gleichgewicht. Gehen auf der einen Seite die Gegengewichte mit den Seilen hoch, bewegt sich der Trog nach unten. Über die Seilgewichtsausgleichskette, die mit dem Trog und den Gewichten verbunden ist, verändert sich das Verhältnis der Kettenlänge am Trog zur Kettenlänge an den Gewichten. So werden die sich verändernden Seillängen und damit die veränderlichen Gewichte von Trog und Gegengewicht ausgeglichen. Um das vom Gewicht ausgeglichene System in Bewegung zu setzen, wird ein Minimum an Strom für den Aufzugsantrieb benötigt.
55 Meter ragt das neue Schiffshebewerk Niederfinow in die Höhe. Die Seilgewichtsausgleichskette (Bild rechts) ist ein zentraler Bestandteil des Gewichtsausgleichs.
Freie Fahrt für den klimafreundlichen Transport
Neu kann an dieser Passage auf der Havel-Oder-Wasserstrasse, die nicht nur ein touristischer Magnet ist, sondern auch für den Güter- und Schwertransport zwischen West- und Osteuropa eine wichtige Rolle spielt, ein Ladungsaufkommen von bis zu vier Millionen Gütertonnen pro Jahr bewältigt werden. Rund 12'000 Schiffe pro Jahr, ein Drittel davon sind Güterschiffe, werden hier geschleust. Damit leistet das Bauwerk einen wesentlichen Beitrag zum Umweltschutz. Denn der Transport via Binnenschiff ersetzt Transporte per LKW. Zum Vergleich: Ein Binnenschiff hat in etwa dieselbe Ladekapazität wie 200 LKW.
Grosses Bauwerk, grosse Gefühle
Die Komplexität, die Zeitdauer der Entstehung und die Imposanz des Bauwerks: All dies löst bei den Beteiligten Emotionen aus. «Man studiert unheimlich viele Unterlagen und Pläne. Aber wenn man dann das betriebsfähige Hebewerk in Bewegung sieht, ist es einfach überwältigend », sagt Carsten Genetzke. Es bleibe ein Gefühl von Stolz und das Gefühl, hier all die Jahre im Team das Richtige gemacht und gemeinsam zum Erfolg beigetragen zu haben.
Ein Besuch lohnt sich
Bist du vom alten und neuen Schiffshebewerk Niederfinow fasziniert? Erkundige dich hier über die aktuellen Besichtigungen und Führungen vor Ort.
Fotos: Lars Wiedemann, Bundesanstalt für Wasserbau BAW