Knautschzone im Berg
Berg ist nicht gleich Berg. Das wissen nicht nur Alpinisten, sondern auch Tunnelbauer. Manche Berge wie der österreichische Semmering sind geologisch anspruchsvoll. Das sehr weiche Gestein gerät durch den Vortrieb in Bewegung und setzt die Tunnelstrukturen unter grossen Druck. Hier gilt es, beim Bau des Tunnels vorzusorgen. «Anstatt geschlossene, steife Spritzbetonschalen herzustellen, machen wir diese durch den Einbau von Stauchelementen elastisch», erklärt Manuel Entfellner. «So fangen wir den Druck des Berges ab und stellen sicher, dass der Tunnel trotz Gebirgsdruck sicher und stabil ist.»
Der 29-jährige Salzburger kennt sich aus. Zum Abschluss seines Studiums in Geotechnik und Tunnelbau hat er sich in seiner Diplomarbeit mit dem Einsatz genau solcher Stauchelemente befasst. «Auf diesen Elementen lastet ein gewaltiger Druck. Bei der Wahl des Materials ist es zentral, die genauen Anforderungen bezüglich Dehnungs- und Spannungseigenschaften zu verstehen», erklärt er. «Hier fällt die Wahl traditionell auf Stahl.»
Bei seinen täglichen Rundgängen auf der Baustelle im Tunnel hat Manuel den Einbau von so manchem Stauchelement beobachtet. Je Abschlag werden bis zu sechs Elemente montiert. Jedes wiegt um die 80 kg und wird von zwei Männern auf engstem Raum in vier bis fünf Metern Höhe, oft auch über dem Kopf, mit sehr viel Krafteinsatz in Position gebracht. «Das ist extrem schwierige Arbeit, aufwändig, anstrengend, ergonomisch eine Katastrophe und auch immer ein Sicherheitsrisiko», erklärt Bauführer Markus Viertler.
«Bei der Arbeit gibt es Dinge, da denkt man sich: Das kann doch nicht die Lösung sein!»
Manuel Entfellner, Bauleiter
«Bei der Arbeit gibt es Dinge, da denkt man sich: Das kann doch nicht die Lösung sein!», sagt Manuel. «Das war so ein Fall. Mit Stauchelementen kannte ich mich relativ gut aus – und ich wollte bessere als die im Moment am Markt verfügbaren.»
Eine Lösung hatte der Bauingenieur auch schon im Kopf. «Aus dem Studium wusste ich, dass EPS/Polystyrol – eingesetzt etwa als Perimeterdämmung unterhalb von Fundamenten – Stahl in vielen Anwendungen ersetzen kann», erzählt er. «Das wollte ich ausprobieren.» Auf der Baustelle am Semmering gibt es ein kleines Labor. Dahin bestellte er Materialen und begann, neue Lösungen zu testen – zum grössten Teil in seiner Freizeit.
Erste Versuche mit handelsüblichem Polystyrol scheiterten an der Festigkeit, die es um den Faktor 20 zu erhöhen galt. Das gelang in Zusammenarbeit mit einem österreichischen Dämmstoffhersteller und zahlreichen Versuchen in dessen Labor. Der nächste Schritt war ein umfangreiches Versuchsprogramm.
«Wir haben unzählige Varianten von Stauchelementen durchgetestet und das Optimum für den Einsatz im Semmering-Basistunnel definiert», so Manuel Entfellner. «Schliesslich konnten wir einen Prototyp bauen und ihn dem Kunden, den Österreichischen Bundesbahnen, präsentieren.»
Das neue Stauchelement bringt mit 19 kg knapp ein Viertel des Gewichts herkömmlicher Stahlelement auf die Waage – bei voller Leistung. «Bei der Präsentation durften alle Anwesenden beide Versionen direkt vergleichen. Da waren auch Skeptiker rasch überzeugt.»
Überzeugend verliefen auch weitere Tests im Tunnel. Aus einer 10 m langen Teststrecke schnitt das neue Element mit Bravour ab. Mehr noch: Die herkömmlichen Stauchelemente aus Stahl erwiesen sich auf einem technisch anspruchsvollen Streckenabschnitt als ungenügend. Nach Absprache mit der ÖBB wurden dort die neuen Elemente eingesetzt – 650 von ihnen wurden installiert und überzeugen seitdem voll.
Um es endgültig auf die offizielle Materialliste für das Projekt zu schaffen, müssen die Elemente parallel im Labor so belastet werden, dass eine Lebensdauer von 150 Jahren garantiert werden kann. «Die Testergebnisse verwenden wir in einem nächsten Schritt für Extrapolationen auf 150 Jahre», so Manuel Entfellner. Danach ist das Produkt reif für den Markt.
«Viele Kollegen waren zunächst skeptisch», beschreibt Manuel die Reaktion seines Arbeitsumfelds auf seine Innovationsfreude. «Zum Glück standen zwei Leute von Anfang an voll hinter der Idee und haben mich tatkräftig unterstützt: unser Geotechniker Helmut Wannenmacher und Rudolf Knopf, Geschäftsführer Implenia Österreich.»
«Wenn wir Verfahren oder Materialien verbessern, profitieren wir ganz direkt, weil uns die Arbeit leichter von der Hand geht.»
Helmut Wannemacher, Geotechniker
Helmut Wannenmacher, ebenfalls Experte für Geotechnik, ist so etwas wie ein Serientäter, wenn es um Innovationen geht. «Bei unserer Arbeit im Tunnelbau sehen wir immer wieder unbefriedigende Lösungen», erklärt der gebürtige Tiroler. «Wenn wir es schaffen, Verfahren oder Materialien zu verbessern, profitieren wir ganz direkt, weil uns die Arbeit leichter von der Hand geht. Meist sind die neuen Lösungen noch dazu günstiger. Ich finde es motivierend, dass ich im Rahmen meiner Arbeit immer wieder Neues ausprobieren kann.»
Rudolf Knopf hat Freude an seinem engagierten Team und unterstützt aktiv Initiativen, die auf günstigere und bessere Produkte abzielen. «Bei den Stauchelementen hatten wir so etwas wie einen geschützten Markt mit überhöhten Preisen und unbefriedigender Qualität. Die Lösung auf diesem Gebiet ist uns hoch willkommen. Wenn Leute mit guten Ideen kommen, fördere ich das. Denn: ‘Geht nicht!’ gibt’s bei uns nicht.»
Rudolf Knopf ermutigte Manuel auch, seinen Vorschlag beim Implenia internen Innovationsprogramm Kickbox einzubringen. Seitdem unterstützt das Team vom Implenia Innovation Hub ihn bei der Patentierung des Produkts und bereitet das Ausrollen im Markt vor. Die Lösung stösst auch bei anderen Unternehmen auf Interesse.
«Mit dem Trend, Strassen und Bahnlinien vermehrt in den Untergrund zu verlegen, gewinnt der Tunnelbau als Disziplin weiter an Bedeutung.»
Rudolf Knopf, Geschäftsführer Implenia Österreich
Manuel Entfellner, 29-jähriger Tunnelbauer und Intrapreneur, erlebt vermutlich schon bald, wie seine Entwicklung nicht nur bei seinem eigenen Projekt zum Einsatz kommt, sondern den Tunnelbau weit über die österreichischen Landesgrenzen hinweg bereichert. Und das ist gut so. «Mit dem Trend, Strassen und Bahnlinien vermehrt in den Untergrund zu verlegen, gewinnt der Tunnelbau als Disziplin weiter an Bedeutung», ist Rudolf Knopf überzeugt. «Innovative Köpfe wie Manuel Entfellner sorgen dafür, dass wir von Implenia nicht nur solide Arbeit abliefern, sondern die Art, wie morgen gebaut wird, auch massgeblich mitbestimmen.»
Das Projekt Semmering-Basistunnel, Baulos SBT 1.1 – Tunnel Gloggnitz
Der geplante Semmering-Basistunnel (SBT) ist aktuell eines der wichtigsten Infrastruktur-Großprojekte im Herzen Europas und Teil der neuen österreichischen Südbahn, die als zentrale Achse auf der transeuropäischen Route von der Ostsee an die Adria reicht. Der SBT mit einer Länge von insgesamt 27,3 km verbindet Niederösterreich und die Steiermark. Die Österreichische Bundesbahnen haben Implenia als Teil einer ARGE mit Hochtief Infrastructure GmbH und Thyssen Schachtbau GmbH mit dem Bau des ca. 7,4 km langen östlichen Bauloses SBT 1.1 beauftragt.
Bauherr: Österreichische Bundesbahn ÖBB
Bauvolumen: EUR 457 Mio. (Wert unserer Leistungen)
Baubeginn: Januar 2015
Rolle Implenia: 40% in ARGE, technische Federführung